Vor über einem halben Jahrhundert legten Konrad Adenauer und Charles de Gaulle mit dem Élysée-Vertrag den Grundstein für ein friedliches und freundschaftliches Zusammenleben zwischen Deutschland und Frankreich – ein politisches Wunder nach zwei Weltkriegen mit Millionen Toten und inmitten des Kalten Krieges.


Doch selbst gute Freunde können sich auseinanderleben und etwa in Verteidigungs- oder Wirtschaftsfragen ist man sich dies- und jenseits des Rheins seit Jahren uneins. Die Neuauflage des Freundschaftsvertrags ist daher alles andere als nur symbolisch. Nur wenn es die Zusammenarbeit Deutschlands und Frankreichs zukunftssicher macht, kann Europa die gewaltigen Herausforderungen meistern, vor denen es steht.



Nicht nur ein „Weiter so!“


Denn auch heute noch ist eine enge deutsch-französische Kooperation zentral: Sie sorgt für Stabilität innerhalb der Union. Damit stärkt sie die europäische Position in der Welt. Und als Labor des interkulturellen Lernens ist sie auch Inspirationsquelle für grenzüberschreitende Zusammenarbeit in anderen Regionen, wie etwa auf dem Balkan, wo 2016 nach dem Vorbild des Deutsch-Französischen Jugendwerks das Westbalkan-Jugendwerk gegründet wurde.


Ein „Weiter so!“ wäre daher nicht genug. Es käme einer schulterzuckenden Kapitulation vor Europaskepsis, Politikverdrossenheit und Nationalismus gleich. Identifikation mit der europäischen Idee kann nur durch eine starke Einbindung der Bürgerinnen und Bürger entstehen. Es muss daher maßgeblicher Bestandteil des neuen Vertrags sein, gesellschaftliches Engagement zu fördern. Und zwar durch dreierlei: durch neue politische Rahmenbedingungen, Anreize für Initiativen aus der Zivilgesellschaft und die Einbindung derer, die die deutsch-französische Freundschaft in Zukunft gestalten werden: junge Menschen verschiedenster sozialer und geografischer Herkunft.


1. Politik: Mit mehr als 2000 Städtepartnerschaften sind Deutschland und Frankreich so eng vernetzt wie mit sonst kaum einem anderen Land. Sie sind eines der wirksamsten Instrumente, um den europäischen Zusammenhalt quer durch alle Gesellschaftsschichten hinweg zu stärken, wie die Bertelsmann-Stiftung Anfang letzten Jahres darlegte. Doch die Zusammenarbeit der Bundesländer und der französischen Regionen erstreckt sich auch auf wirtschaftliche Beziehungen, gemeinsame Projekte in der Forschung und im Umweltschutz oder etwa auf sportlichen und kulturellen Austausch. Hier liegt ein enormes Potential, das es auszuschöpfen gilt.


Während der Élysée-Vertrag die Regierungen auf Bundesebene bereits zu regelmäßigen Treffen und Absprachen in Fragen der Außen-, Sicherheits-, Jugend- und Kulturpolitik verpflichtet, beruht die Zusammenarbeit auf Länderebene noch zu sehr auf Einzelinitiativen. Der Aachener Vertrag sollte Rhythmus, Zeitpunkt und Intensität des deutsch-französischen Austauschs daher auch auf regionaler Ebene festschreiben und dort nachhaltig im Alltag verankern.


Bayern braucht ebenso wie seine Partnerregion Grand Sud ein zeitgemäßes Bildungsangebot, sie muss ihre regionale Wirtschaft entwickeln oder Maßnahmen für mehr Umweltschutz entwickeln. Hier kann regelmäßiger Austausch Synergien schaffen: Er hilft dabei, ähnliche Herausforderungen zu identifizieren und gemeinsam Lösungskonzepte zu finden.


2. Zivilgesellschaft: Wie kann, wie soll sich die deutsch-französische Freundschaft im Leben eines Azubis, einer Bürgermeisterin, eines Firmenchefs oder einer Fußballtrainerin widerspiegeln? Die regionale und lokale Vernetzung ist ein Katalysator für die Kooperation zwischen Deutschland und Frankreich, sie macht die Verbundenheit beider Länder spürbar: Schulaustausch kann tiefe Freundschaften entstehen lassen, wirtschaftliche Beziehungen erschließen neue Märkte und Schnupper-Praktika im Nachbarland prägen ganze Karrieren.


Diese Formen der Zusammenarbeit, insbesondere in Grenzgebieten, müssen gefördert werden: Ein eigener Fonds für zivilgesellschaftliche Initiativen sollte finanzielle Unterstützung leisten; eine juristische Angleichung der Vereinswesen beider Länder – oder gar ein europäisches Vereinsrecht – würde gemeinsame Projekte vereinfachen; und von der länderübergreifenden Anerkennung von Schul- und Berufsabschlüssen würden endlich nicht nur junge Menschen in Ausbildung profitieren, sondern auch die Unternehmen.


3. Jugend: Nicht nur die anstehenden Wahlen des Europäischen Parlaments machen 2019 zu einem Schlüsseljahr für die EU. Auch Deutschland und Frankreich können mit dem Aachener Vertrag entscheidende Weichen für eine erfolgreiche europäische Zukunft stellen. Wer dem Vorwurf, Europa sei ein Elitenprojekt, etwas entgegensetzen will, muss alle mitnehmen: Nicht nur junge Menschen, denen weder finanzielle noch sprachliche oder soziale Hürden den Zugang zu Schulaustausch, Gap-Year und Erasmus-Semester verbauen.


Jeder muss, darf, soll spüren, was es heißt, Europäer zu sein. Eine Bäckerei-Auszubildende aus Duisburg-Marxloh soll Kolleginnen und Kollegen in Calais kennenlernen, ein Berufsschüler aus der Pariser Vorstadt einen Sprachkurs in Deutschland machen und ein junger Arbeitssuchender aus Lyon ein Praktikum in der Partnerstadt Leipzig absolvieren können.


Jugendaustausch zwischen Deutschland und Frankreich, aber auch mit anderen Ländern der EU und ihren Nachbarn kommt hier eine entscheidende Rolle zu: Er vermittelt interkulturelle und sprachliche Kompetenzen, schafft Offenheit und ein Bewusstsein für europäische Werte und ist so nicht nur ein persönlicher oder beruflicher Gewinn für jeden Jugendlichen, sondern für unsere ganze Gesellschaft. Es gilt ihn daher gezielt auszubauen: Wir müssen erfolgreiche Angebote, wie etwa den deutsch-französischen Freiwilligendienst, stärken und neue Formate schaffen, in denen alle jungen Menschen die Zukunft Europas aktiv mitgestalten können und mit ihren Ideen und Bedürfnissen gehört werden.


Der Aachener Vertrag ist eine große Chance. Ihn mutig zu gestalten ist eine Pflicht und seine Aufgabe keine geringere als diese: Menschen in Deutschland und Frankreich müssen wieder Lust haben, die deutsch-französischen Beziehungen zu intensivieren und den Mut, an Europa zu glauben.


Béatrice Angrand


Generalsekretärin des Deutsch-Französischen Jugendwerks (DFJW)


Dieser Gastbeitrag ist am 22. Januar 2019 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und in seiner französischen Version in der Huffington Post erschienen


Frankfurter Allgemeine Zeitung


Le Huffington Post