Kontext

In den letzten Jahrzehnten haben politische Spannungen, die sowohl geopolitisch als auch innerhalb der Europäischen Union (EU) unter dem Begriff „Ost-West-Konflikt“ zusammengefasst werden können, ebenso zugenommen wie die in vielen Ländern zu beobachtenden Renationalisierungstendenzen. Als Orientierungspunkte dienen zunächst die durch den Fall des Eisernen Vorhangs 1989/90 sowie EU-Osterweiterungen (ab 2004) bedingten historischen Zäsuren. Da das Ergebnis historischer Interpretationen immer auch vom Zeitpunkt ihrer Ausarbeitung abhängt, können die Untersuchungen nicht ohne Bezug zu den gegenwärtigen Entwicklungen erfolgen. Denn nach dem Beginn des Russischen Angriffskrieges auf die Ukraine im Februar 2022 erscheint die Idee von Versöhnung und Annäherung vielen obsolet geworden. Daher haben Bestrebungen, das Anderssein zu verstehen und die Barrieren zwischen „uns“ und „den Anderen“ abzubauen, gegenwärtig hohe Priorität.

NARDIV basiert auf einer engen Zusammenarbeit zwischen akademischen Partnern, verschiedenen Kulturmittlerorganisationen und einer expliziten Vielfalt an Forschungsdisziplinen: die Verbindung einer politikwissenschaftlichen Perspektive auf Außenpolitik und Internationale Beziehungen mit Forschung zum Kulturtransfer. Der interdisziplinäre Ansatz bedingt auch die methodische Diversität des Projekts, in dem klassische Archivrecherchen und Feldforschung mit kreativen Workshops und künstlerischer Forschung kombiniert werden.

Ziele

Die allgemeinen Ziele von NARDIV bestehen in der Untersuchung der gegenseitigen Wahrnehmung von Ost und West in verschiedenen europäischen Ländern auf der Grundlage von Diskursen über Geschichte, Erinnerung und Identität, deren mögliche langfristige Veränderung durch interkulturellen Austausch und die Werkzeuge der Kulturdiplomatie analysiert werden.

Spezifische Zielsetzungen bestehen unter anderem in

  • der Entwicklung eines integrativen und partizipativen Ansatzes für (international agierende) Mittlerorganisationen im Bereich des Kulturaustausches und -transfers,
  • der Ausarbeitung und Erprobung von Kommunikationsstrategien, die der Verbreitung nationaler Stereotypen auf den sozialen Medienplattformen entgegenwirken sollen,
  • der Sensibilisierung für die Bedeutung der europäischen Zusammenarbeit zur Stärkung demokratischer Werte und zur Veränderung klischeehafter Ost-West-Wahrnehmungen.

Anlage und Verlauf / Methodik und Vorgehensweise

Im Fokus der Untersuchung stehen Narrative aller Art: einerseits in Form der medialen Darstellung von Wahrnehmungen (in Literatur, Film oder digitalen Medien), andererseits als Austausch- und Transfergeschichten auf Grundlage von künstlerischen Werken, Aktionen oder Partnerschaften sowie auf Grundlage wissenschaftlicher oder zivilgesellschaftlicher Netzwerke. Die Studien beleuchten unter anderem Lebensgeschichten von Frauen im Ost-West-Kontext sowie die Kulturdiplomatie als Soft Power unter Berücksichtigung der Ansätze der Postkolonialen Studien. Zudem wird die Informations- und Desinformationspolitik in West- und Osteuropa untersucht und die Ost-West-Kulturdiplomatie aus historischer Perspektive analysiert.

Eine Besonderheit des Projektes besteht darin, dass die klassische wissenschaftliche Forschungsarbeit durch Experimente in verschiedenen Formaten ergänzt wird (zum Beispiel in Workshops und Sommerschulen mit jungen Erwachsenen oder auf kulturellen Veranstaltungen). Die beteiligten Kulturinstitute dienen hierbei als Laboratorien. Bei Workshops und Sommerschulen für junge Menschen werden kulturdiplomatische Fragestellungen mit Diskussionen über Probleme wie Desinformation (z. B. in den sozialen Medien) verbunden. Dabei sollen auch neue Strategien entwickelt werden, die insbesondere auf die Integration sozialer Medien in die Arbeit von Kultureinrichtungen und die Bekämpfung des wachsenden (negativen) Einflusses von Desinformation zielen, um eine nachhaltige Stärkung der Idee des kulturellen Dialogs und Austauschs sicherzustellen. Bei Veranstaltungen im Institut français in Bukarest anlässlich seines 100-jährigen Bestehens werden lokale und internationale Aktivist:innen, Kunstschaffende und Politiker:innen zusammenkommen, um ihre Erfahrungen mit dem Ost-West-Austausch zu dokumentieren und zu diskutieren. Die Veranstaltungen werden in den Kulturinstituten in Hamburg, Amsterdam, Paris und Warschau wiederholt und anschließend ausgewertet.

Forschungsfragen (Auswahl)

  • Ob und wenn ja, wie können künstlerischer Austausch und die Mittel staatlich geförderter auswärtiger Kulturpolitik (cultural diplomacy) die gegenseitige Wahrnehmung positiv beeinflussen und Stereotype abbauen, um einem gemeinsamen, inklusiven europäischen Narrativ näher zu kommen? 
  • Welche Rolle spielt die Kulturdiplomatie als Soft Power für die Wahrnehmung des Eigenen und des Fremden? In welchen Wechselwirkungen steht sie mit der transnationalen Kommunikation über soziale Netzwerke – inklusive der zunehmenden Verschwörungstheorien?
  • Welche Rolle haben zur Zeit des Kalten Krieges das deutsche und französische Kulturinstitut in Bukarest gespielt? Waren sie ein „Schaufenster des Westens“ (im Sinne von Werbung oder gar Propaganda) oder dienten sie eher als Schutzraum (Kultur als Safe Space)? Welche Rolle spielte hier die deutsche Minderheit in Rumänien?
  • Wann haben sich die Ost-West-Beziehungen verbessert, wann verschlechtert und warum? Gibt es Ressentiments, hinsichtlich des Eindrucks durch den „Anschluss“ an den Westen kolonisiert worden zu sein? Konnten kulturelle Kontakte von und nach außen, wie sie der Kulturtransfer in institutionalisierter und freier Form anregt und unterstützt, einen positiven Einfluss ausüben oder überwiegt das Gefühl, durch die Dominanz „westlicher“ Diskurse die Deutungshoheit über die eigenen tradierten Werte zu verlieren?

Publikationen

Die Ergebnisse werden in wissenschaftlichen Publikationen, Handbüchern und künstlerischen Arbeiten dokumentiert und verbreitet.

Mitglieder der Forschungsteams und Projektpartner

Das Forschungsteam besteht aus 12 offiziellen Partnern und 4 assoziierten Partnern, 6 akademischen Instituten und 10 nicht-akademischen Organisationen:

  • Aix-Marseille Université (FR)
  • Uniwersytet Wroclawski (PL)
  • Uniwersytet Szczecinski (PL)
  • Hochschule für angewandte Wissenschaften Hamburg (DE)
  • Goethe-Institut e. V. (DE)
  • EUFRAK-EuroConsults Berlin (DE)
  • Universitatea din București (RO)
  • Romanian Cultural Institute (RO)
  • Institut français de Roumanie (RO)
  • Universiteit van Amsterdam (NL)
  • Stichting Duitsland Instituut bij de universiteit van Amsterdam (NL)
  • GLOBESEC (SK)
  • Deutsch-Französisches Jugendwerk / Office franco-allemand pour la Jeunesse (DE / FR)
  • Fundacja Europejska Siec Pamiec I Solidarnosc (PL)
  • FUNDACJA KRZYZOWA DLA POROZUMIENIA EUROPEJSKIEGO (PL)
  • Stichting Clingendael (NL)