Am 22. Januar 2019 unterzeichnen Bundeskanzlerin Angela Merkel und Staatspräsident Emmanuel Macron in Aachen einen neuen Vertrag über die deutsch-französische Zusammenarbeit und Integration. Er soll den Élysée-Vertrag von 1963 nicht ersetzen, sondern ergänzen. Frankreich hatte die Idee eines neuen Vertrags bereits vor mehr als 10 Jahren ins Spiel gebracht. Die Bundesregierung hatte zunächst nicht darauf reagiert. Mit seiner Rede in der Sorbonne belebte Macron die Debatte im September 2017 neu und setzte auf die Stärkung der bilateralen Beziehungen, um Europa neue Impulse zu geben. Berlin wurde zunächst von langwierigen Koalitionsverhandlungen gebremst. Daraufhin ergriffen die beiden Parlamente die Initiative und brachten die Idee einer Deutsch-Französischen Parlamentarischen Versammlung auf den Weg. Die Versammlung wurde 2020 eingerichtet und besteht aus 100 Mitgliedern. Sie soll bilaterale Angelegenheiten und die grenzüberschreitende Zusammenarbeit überwachen und bewerten. Außerdem hat sie die Aufgabe, EU-Richtlinien in beiden Ländern in nationales Recht umzusetzen. Sie hat auch ein Vorschlagsrecht, aber keine Entscheidungsbefugnis. Der Vertrag von Aachen stützt sich auch auf die deutsch-französische parlamentarische Zusammenarbeit, deren grundlegende Rolle beide Regierungen anerkennen.

Warum sollte es also einen neuen Vertrag geben? Der Élysée-Vertrag war mehr als ein halbes Jahrhundert alt. Seit seiner Unterzeichnung hat sich die Welt grundlegend verändert. 1963 waren Deutschland und Europa geteilt, es war die Zeit des Kalten Krieges. Das wiedervereinigte Deutschland ist nun eine wirtschaftliche und politische Macht. Das hat die bilateralen Beziehungen verändert. Europa ist geeint und die nacheinander erfolgten EU-Erweiterungen haben dazu beigetragen, dass sich der Schwerpunkt nach Osten verlagert hat. Europa ist heute angesichts des wachsenden Populismus zunehmend gespalten. Die Welt nach dem Kalten Krieg ist multipolar und unsicherer geworden. Außerdem müssen neue Herausforderungen wie Klima, Migration, Digitalwirtschaft und Terrorismus bewältigt werden.

Neben einem organisatorischen Teil, der die Konsultationen weiter stärkt, besteht der Vertrag aus 5 Kapiteln: 1. Europäische Angelegenheiten; 2. Frieden, Sicherheit und Entwicklung; 3. Kultur, Bildung, Forschung und Mobilität; 4. Regionale und grenzüberschreitende Zusammenarbeit; 5. Nachhaltige Entwicklung, Klima, Umwelt und wirtschaftliche Angelegenheiten. Der Vertrag ist daher umfangreicher als die Fassung aus dem Jahr 1963. Er bezieht Themen in die Zusammenarbeit ein, bei denen beide Länder auf eine substanzielle Erfolgsbilanz verweisen können. Dies gilt beispielsweise für die Bereiche Jugend, kultureller und zivilgesellschaftlicher Austausch, aber auch für Themen, bei denen die Meinungen noch weit auseinandergehen, wie etwa bei der Verteidigung, oder bei denen die Ergebnisse noch ausbaufähig sind, wie z. B. im Bereich des Sprachunterrichts. 

Der Vertrag von Aachen gibt der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit neue Impulse. Seit den 1990er Jahren haben beide Länder viel Erfahrung gesammelt, sei es bei der Einrichtung der Eurodistrikte oder im Alltag der Grenzgänger:innen (Steuern, Gesundheit, Transport usw.). Ein sensibles Thema, da den Grenzregionen ein besonderer Status zuerkannt werden soll. Die Fokussierung auf die grenzüberschreitende Zusammenarbeit birgt jedoch die Gefahr, dass die deutsch-französischen Beziehungen zu einer regionalen Angelegenheit werden, die nicht mehr alle Bürger:innen in ganz Deutschland und Frankreich betrifft. 

Damit niemand von der Zusammenarbeit ausgeschlossen wird, soll der Vertrag den kulturellen und gesellschaftlichen Beziehungen neue Impulse geben und Initiativen zwischen den Menschen und Begegnungen zwischen den Bürger:innen fördern. Im Vertrag wird die Einrichtung eines Deutsch-Französischen Bürgerfonds angekündigt. Damit sollen zivilgesellschaftliche Initiativen wie Städtepartnerschaften und viele andere Begegnungen finanziert werden. Seit seiner Einrichtung im April 2020 ergänzt der Bürgerfonds die Arbeit des DFJW über den Jugendbereich hinaus. Der Vertrag von Aachen stärkt auch die Rolle des DFJW. Der Jugendaustausch soll nun auf allen Ebenen gefördert werden. Dies gilt nicht nur für Hochschulabsolvent:innen (die Aufgabe der Deutsch-Französischen Hochschule wird bekräftigt), sondern auch für Gymnasiast:innen und junge Menschen in der Berufsausbildung.

Der Vertrag beansprucht einen neuen Geist für sich: den der „neuen deutsch-französischen Verantwortung für Europa“. Der Élysée-Vertrag von 1963 war eine bilaterale Zwischenlösung, die notdürftig zusammengeschustert wurde, nachdem das Projekt einer politischen Union des „Europas der Sechs“ im Jahr 1962 gescheitert war. Der Vertrag von 2019 entspricht einer umgekehrten Logik: nicht bilateral als Alternative zu Europa, sondern deutsch-französisch im Dienste Europas. Dies ist zumindest die Absicht! Die Vertragsunterzeichnung wurde sorgfältig inszeniert, nämlich in der Stadt Karls des Großen, der Schutzfigur Europas, in Anwesenheit von Vertreter:innen der wichtigsten europäischen Institutionen. 

Damit wollen Deutschland und Frankreich besser auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts wie Umwelt, Klima und Digitalisierung reagieren. Es ist noch zu früh, um zu sagen, ob der Aachener Vertrag geeignet ist, diese Probleme zu lösen. Der Krieg Russlands in der Ukraine hat die deutsch-französischen Beziehungen und die Europäische Union erschüttert. Es müssen dringend neue Wege gefunden werden, um mit der Situation umzugehen.