Anlässlich seines 40. Geburtstags und im Rahmen des Forums „Das DFJW - Experimentierfeld im Dienste einer europäischen Zivilgesellschaft", das vom 2. bis
5. Juli 2003 in Sanary stattfand, hat das DFJW Partner aus Jugendverbänden, Organisatoren und Verantwortliche deutsch-französischer Begegnungen sowie Forscher, die seit 40 Jahren die Arbeit des DFJW analysieren, eingeladen.

Parallel zum Forum fand eine deutsch-französische Begegnung zwischen Gymnasiasten und den Preisträgern des Wettbewerbs des Volksbunds deutscher Kriegsgräberfürsorge (VdK) und des Office National des Anciens Combattants (ONAC) statt, zum Thema „deutsch-französische Erinnerungsorte des 20. Jahrhunderts. Außerdem fand ein Hochschulseminar mit Romanisten der Technischen Hochschule Berlin und Studenten des Grundstudiums des deutsch-französischen Studiengangs des Institut des Sciences Politiques, Paris, statt.

Die Gymnasiasten und Studenten erstellten eine gemeinsame Erklärung über die Erinnerungsarbeit, in der sie Ihr Interesse an diesem Thema bekundeten und eine ausführlichere Behandlung dieses Themas im Unterricht forderten. Die Erklärung wurde den Teilnehmern des Forums beim Besuch der Gedenkstätte des Camp des Milles (bei Aix-en-Provence) am 3. Juli 2003 in Anwesenheit von Herrn Barcellini, Direktor des ONAC, Herrn Jean-Louis Dieux, Vizepräsident des Conseil Régional Provence-Alpes-Côte d'Azur, vorgestellt. Sie wurde ebenfalls dem französischen Bildungsminister, Herrn Luc Ferry, übermittelt, der Präsident des Kuratoriums des DFJW ist.

Die Erklärung von Sanary

Wir Schüler und Studenten aus Bad Säckingen, Berlin, Lahr, Langogne, Nancy und Sanary, haben uns hier in Sanary zusammengefunden, um über das Thema Erinnerungsarbeit zu diskutieren. Durch unsere Projektarbeit wollen wir unser Interesse und unser Engagement für dieses Thema zeigen.

Was ist Erinnerungsarbeit, und wozu brauchen wir sie? Deutlich wurde uns ihre Bedeutung:

Wir richten uns gegen Vergessen und Verdrängen. Wir möchten unsere gemeinsame Geschichte betrachten und verstehen, nicht um nach Schuldigen zu suchen, sondern um eine Wiederholung von Fehlern zu verhindern.

Seit dem Zweiten Weltkrieg haben sich die Beziehungen zwischen Deutschen und Franzosen von Feindschaft hin zu vielfältigen Freundschaften entwickelt. Die Zusammenarbeit der beiden Länder findet sowohl auf wirtschaftlicher, politischer als auch auf kultureller Ebene statt. Gesellschaftliche Organisationen und Initiativen wie auch die Städtepartnerschaften und der Schüleraustausch haben erheblich zur Annäherung der beiden Länder und Völker beigetragen. Das Deutsch-Französische Jugendwerk als binationale Organisation spielt im Dienste der Verständigung und des Austauschs eine herausragende Rolle.

Wie uns die preisgekrönten Schülerprojekte gezeigt haben, muss die Vergangenheit nicht verdrängt, sondern aufgearbeitet und verstanden werden, um Perspektiven für die Zukunft zu entwickeln. Im Bereich der Erinnerungsarbeit wurde schon viel versucht und getan. Wir möchten deshalb als Schüler und Studenten Kritik und Verbesserungsvorschläge formulieren, damit die Ideen unserer Generation in den Prozess der Vergangenheitsarbeit einfließen. Denn jede Generation muss ihren eigenen Weg finden. Deshalb müssen sich auch die Arbeitsformen und Schwerpunkte der Vergangenheitsarbeit an unseren Fragen orientieren.

Uns ist des öfteren aufgefallen, dass die im Unterricht behandelten Themen nicht mit unserer persönlichen Geschichtserfahrung übereinstimmen. Wir werden mit widersprüchlichen Darstellungsweisen konfrontiert, in der Schule, in den Medien und in der Familie. Das geschieht oft, bevor wir in der Lage sind, uns eine eigene Meinung zu bilden. Uns erscheint es daher wichtig, verschiedene Blickpunkte zu betrachten und zu verstehen, um eine zu starke Schwarz-Weiß-Malerei zu vermeiden. Beispielsweise wird das Thema Nationalsozialismus und Faschismus wage und konfus behandelt, sodass kein globales Verständnis entstehen kann.

Das Beispiel Sanary zeigt, wie auch deutsche Emigranten in der französischen Résistance mitwirkten und so länderübergreifend gemeinsame Ziel und Ideale verfolgten. Ihre Werte waren wesentlich mitbestimmend für die Solidarität der Völker und das Zusammenwachsen Europas.

Im Rahmen dieses Projekts haben wir auch unsere Großeltern, Nachbarn und Familienfreunde befragen können und haben so einen persönlichen Zugang zu dem Thema gewonnen.

Wir fordern, dass wir gerade bei so schwierigen Themen wie zum Beispiel Drittes Reich und Vichy nicht mit unpädagogischen Schockmethoden erschlagen werden. Wir möchten über gewonnene Eindrücke diskutieren, um sie richtig zu verarbeiten.

Wir sind uns bewusst, dass wir in Bezug auf die Zeit des Hitler-Regimes die letzte Generation sind, die noch Zeitzeugen befragen kann. Hier in Sanary hatten wir die Möglichkeit, Emigration und Résistance unmittelbar zu erfassen und original Schauplätze zu entdecken. Es gilt auch, vergessene Aspekte der Geschichte einzubeziehen und bewusst zu machen. Der Austausch und die Begegnungen hier in Sanary haben uns persönlich sehr bereichert. Sie sind ein Prozess der nicht abgebrochen werden darf, sondern kontinuierlich gefördert und ausgebaut werden muss.

Dafür ist es notwendig, dass Gemeinsamkeiten gefunden und Vertrauen aufgebaut werden, um die gemeinsame Auseinandersetzung mit der gemeinsamen Geschichte zu ermöglichen. Austauschprogramme dieser Art fördern das gegenseitige Verständnis und bilden den Grundstein für eine gemeinsame, friedvolle Zukunft.

Den hier anwesenden Lehrern und Professoren möchten wir für ihr überdurchschnittliches Engagement danken. In der sehr offenen und dadurch kreativen Arbeit mit ihnen eröffneten sich für uns ganz neue Perspektiven, wie wir mit der Vergangenheit umgehen können.

Sanary-sur-Mer, den 3 Juli 2003