Heike Deul, pädagogische Leiterin bei Arbeit und Leben Mecklenburg-Vorpommern e. V. in Schwerin, und Verena Kaldik, Projektbeauftragte und pädagogische Mitarbeiterin des DFJW bei CEFIR in Dünkirchen, arbeiten gemeinsam mit jungen Auszubildenden. Sie erklären, wie und warum sie bei unserem Projektaufruf "Digital ganz nah" mitmachen.
1. Junge Menschen treffen die Auswirkungen der Corona-Krise mit voller Wucht. Viele befürchten, auf dem Arbeitsmarkt nicht Fuß fassen zu können. Welche Erfahrungen machen Sie derzeit mit jungen Auszubildenden?
Heike Deul
Insgesamt gibt es viel Unsicherheit über die berufliche Zukunft bei Auszubildenden und Jugendlichen, die in diesen Tagen mit der Ausbildung beginnen werden. Berichte über Betriebe, die unter den Auswirkungen der Corona-Krise leiden, und über eine mögliche Insolvenzwelle im Herbst erhöhen die Sorgen und verzögern die Berufswahl. Für Schulabgänger*innen kommt hinzu, dass Veranstaltungen, die eine Berufswahl erleichtern bzw. unterstützen können und Kontakte zu möglichen Arbeitgeber*innen herstellen, wie Jobmessen oder Projekttage, nicht stattfinden konnten.
Viele Schulabgänger*innen in Mecklenburg-Vorpommern haben sich bis Mitte August 2020 aufgrund der aktuellen Rahmenbedingungen noch nicht auf einen Ausbildungsplatz beworben. Dies betrifft Jugendliche mit unterschiedlichen Schulabschlüssen, d. h. angefangen bei Abiturient*innen bis hin zu jungen Menschen mit Berufsreife.
Aufgrund dieser Situation wurde in diesen Tagen gemeinsam von Gewerkschaften und Wirtschaft beschlossen, den Ausbildungsstart um einige Wochen zu verschieben. Damit soll sichergestellt werden, dass möglichst alle Schulabgänger*innen noch eine reguläre zwei- oder dreijährige Berufsausbildung beginnen können.
Wirtschaft und Gewerkschaften gehen davon aus, dass die Übernahme der Auszubildenden gesichert ist, weil es einen Bedarf an Fachkräften gibt. Der Fachkräftemangel wird es Arbeitnehmer*innen ermöglichen, eine neue Beschäftigung zu finden.
Verena Kaldik:
In Frankreich ist es – aufgrund der gesundheitlichen Lage – für viele Jugendliche sehr schwierig geworden, einen Arbeits- oder Ausbildungsplatz zu finden. Die französische Regierung hat daher das Konjunkturprogramm « Promotion de l’alternance » [Förderung der dualen Ausbildung / des dualen Studiums, ndt] gestartet, mithilfe dessen junge Menschen trotz der aktuellen wirtschaftlichen Krise eine Berufsausbildung beginnen können. Zum einen wurde eine Einstellungsprämie eingeführt, damit Unternehmen Auszubildende aufnehmen. Zum anderen wurde die Frist von 3 auf 6 Monate verlängert, innerhalb der junge Menschen im Rahmen ihrer Ausbildung einen Lehrbetrieb finden müssen. Berufsschulen bekommen zudem einen Sonderzuschuss für den Kauf einer digitalen Erstausstattung. Außerdem werden zusätzliche Bildungsmaßnahmen für die Jugendlichen eingeführt.
2. Sie gehören zu den ersten Einrichtungen, die auf den Projektaufruf „Digital ganz nah“ reagiert haben. Ihre digitale Begegnung richtet sich an junge Menschen aus der beruflichen Bildung in Deutschland und Frankreich. Worum geht es dabei?
Seit Beginn der Pandemie können keine internationalen Jugendbegegnungen stattfinden. Die von ARBEIT UND LEBEN geplanten Austauschprojekte mit jungen Menschen in der beruflichen Ausbildung wurden abgesagt oder verschoben. Wichtig war uns deshalb, zusammen mit dem CEFIR ein Projekt zu entwickeln, mithilfe dessen digitale Methoden und Instrumente entwickelt werden, die wiederrum neue Begegnungsformen für junge Menschen in der Berufsausbildung ermöglichen. Die digitale Dimension steht im Mittelpunkt des Projekts, wobei die aktuellen digitalen Ansätze in der Berufsbildung und die Erfahrungen von ARBEIT UND LEBEN, CEFIR und unseren Partnern im Bereich der deutsch-französischen Bildungsarbeit genutzt und miteinander verbunden werden. Das Projekt wird auf bereits bestehende Kooperationen zurückgreifen. Es richtet sich an junge Menschen in der Berufsausbildung bzw. Berufsorientierung in Deutschland und Frankreich.
Die im Projekt zu entwickelten neuen digitalen Tools sollen für Präsenzveranstaltungen, Blended-Learning- und Online-Seminare eingesetzt werden können. Bei der Konzipierung werden pädagogische Ansätze verfolgt, die die Bedürfnisse aller Akteure aus dem Bereich der Berufsbildung und der außerschulischen Bildung berücksichtigen. Eine Aufgabe wird u. a. – unter Beteiligung der Jugendlichen ‒ die Entwicklung von Erklärvideos sein. Die zum Projektende vorliegenden Produkte werden für die Vor- und Nachbereitung von Jugendbegegnungen zur Verfügung stehen.
Die Ergebnisse können nicht nur ein Baustein für die Vor- und Nachbereitung von Jugendbegegnungen von beruflichen Schulen sein, sondern auch ein Beitrag zur Steigerung des Interesses von jungen Menschen an Begegnungen und Austauschmaßnahmen leisten.
3. Was hat Sie dazu bewegt, ein digitales Projekt mit Unterstützung des DFJW zu starten?
Die aktuelle Situation stellt uns als Träger der Jugend- und Erwachsenenbildung vor große Herausforderungen. Viele Präsenzseminare mussten, wie bereits erwähnt, in diesem Jahr abgesagt bzw. in das nächste Jahr verschoben werden, u. a. deutsch-französische Jugendbegegnungen für Auszubildende, die in Kooperation mit beruflichen Schulen durchgeführt werden. Derzeit ist nicht absehbar, wann wir wieder „klassische“ Jugendbegegnungen in Deutschland und Frankreich durchführen können. Uns ist es wichtig, den Austausch zwischen jungen Menschen auch in dieser Zeit zu ermöglichen. Wir wollen deshalb neue digitale Tools entwickeln, die wir in der Zwischenzeit nutzen und auch später bei Präsenzveranstaltungen einsetzen können. Ziel ist es, Methoden zur Auswahl zu haben, die Informationen über den Gesamtprozess einer Jugendbegegnung erhalten. Die Tools sollen u. a. eine Reflektion über Erwartungen vor der Begegnung und Erfahrungen und Erkenntnisse nach der Begegnung ermöglichen und nicht zuletzt das Interesse und die Motivation zur Teilnahme an Jugendbegegnungen erhöhen.
Die Corona-Krise hat uns mit voller Wucht getroffen. Wie die meisten unserer Partner waren wir auf eine derartige Situation nicht vorbereitet und mussten daher unsere von März bis August 2020 geplanten Austauschbegegnungen absagen. Man muss jetzt innovativ sein, um interkulturelle Projekte zu ermöglichen. Uns erscheint es interessant und zeitgemäß, andere Arbeitsweisen einzuführen und uns erneut auf mögliche Einschränkungen für Reisen und Austauschbegegnungen vorzubereiten. Wir möchten diese neuartige Situation nutzen, um innovative Tools zu entwickeln, die vor, aber auch während und nach Jugendbegegnungen eingesetzt werden können. Die heutige Jugend wächst mit einer Vielzahl digitaler Werkzeuge auf, die sie in ihrem Alltag nutzen. Mit den entwickelten Tools in unserem Projekt können sie ‒ aufbauend auf ihren digitalen Kompetenzen ‒ interkulturelle Erfahrungen machen. Es wird kein Ersatz für physische Austauschbegegnungen sein. Vielmehr sind die Tools komplementär zu begreifen, um eine Kontinuität selbst in Krisenzeiten zu ermöglichen. Die entwickelten Tools werden all unseren Partnern zur Verfügung gestellt, damit so viele junge Menschen wie möglich interkulturelle Erfahrungen sammeln können.
4.Wie haben Sie die Anfangsphase des Projektes in Zusammenarbeit mit Ihren Partnern (in Deutschland / in Frankreich) organisiert?
Mittels Videokonferenzen, E-Mails und ergänzenden Telefonaten mit der Partnerorganisation erfolgt die Feinplanung der verschiedenen Arbeitsphasen des Projektes. Ideen und erste Konzepte sollen zusammengetragen werden. Auch eine gemeinsame Weiterbildung zur Nutzung von Tools für die Erstellung von Erklärvideos ist geplant.
Die beruflichen Schulen werden zu Beginn einbezogen, um deren Bedarfe und Anregungen in die Konzeption der Tools einzubeziehen. In einem ersten Schritt werden die Lehrkräfte angesprochen, auch um zu klären, wie bzw. in welchem Rahmen wir die Auszubildenden einbeziehen können. In den kommenden Wochen werden wir die Projektarbeit zusammen mit den Berufsschulen und den Auszubildenden bzw. Berufsschüler*innen starten.
Wir erhoffen vielfältige Erkenntnisse bei der Erprobung und beim Einsatz der Tools in der neuen Begegnungsform. Wir erwarten eine interessante Zusammenarbeit mit den Partner*innen.
Wir hoffen sehr, dass in Deutschland und Frankreich die Corona-Krise bald überwunden ist und wieder primär Präsenzveranstaltungen durchgeführt werden können.
Das CEFIR und ARBEIT UND LEBEN arbeiten seit mehreren Jahren zusammen und haben bereits viele Jugendbegegnungen organisiert. Unsere beiden Vereine haben langjährige Erfahrung in der Organisation interkultureller Begegnungen für junge Menschen in der beruflichen Bildung. Wir sind mit vielen Einrichtungen der beruflichen Bildung sowie Multiplikator*innen in Deutschland und Frankreich vernetzt. Direkt zum Schulbeginn haben wir unsere Partner kontaktiert, um junge Menschen, Lehrkräfte und interkulturelle Jugendleiter*innen einzubeziehen. Unser Ziel ist es, 10 junge Menschen pro Land zu gewinnen, die mit uns gemeinsam die digitalen Tools entwickeln, in der Hoffnung, dass sich die gesundheitliche Lage bessert.
5. Wie können wir – über die in Deutschland und Frankreich ergriffenen staatlichen Maßnahmen hinaus – jungen Menschen mit besonderem Förderbedarf in der Corona-Krise helfen?
Die staatlichen Maßnahmen sind in erster Linie eine Unterstützung für die Wirtschaft, die das Ziel verfolgen, Arbeitsplätze dauerhaft zu sichern. Für junge Menschen ist der Erhalt ihres Arbeitsplatzes ebenfalls sehr wichtig. Zugleich gilt es jedoch, auch unter diesen prekären Bedingungen ihre Zukunft gestalten zu können. Mobilität und interkulturelles Lernen spielen hierbei eine wichtige Rolle.
In einer Zeit, die durch eine notwendige Distanz bzw. Abstandsregelungen zwischen Menschen geprägt ist und das gemeinsame Europa in der (Pandemie-)Krise vor viele Fragen und Herausforderungen stellt, ist es wichtig, ein starkes Signal zu setzen. Insbesondere junge Menschen, die aus finanziellen oder familiären Gründen noch nie die Möglichkeit hatten ins Ausland zu gehen, sollen künftig vermehrt Chancen für interkulturelle und berufliche Erfahrungen über Grenzen hinweg sammeln können. Eine ausreichende Förderung von jungen Menschen mit besonderen Förderbedarf wäre ein guter Beitrag des DFJW.
Es wäre wünschenswert, trotz der Corona-Krise mehr junge Menschen mit besonderem Förderbedarf die Teilnahme an interkulturellen Austauschbegegnungen zu ermöglichen. Dafür müssen sie zunächst über die verschiedenen Möglichkeiten des Austauschs informiert werden. Dafür muss es Ausbildungsmaßnahmen für Multiplikator*innen geben, die diese Zielgruppe beraten können. Außerdem wäre es sinnvoll, über zusätzliche finanzielle Mittel für junge Menschen mit besonderem Förderbedarf nachzudenken, da der finanzielle Aspekt oft ein Hindernis für die Teilnahme an Jugendbegegnungen darstellt.
Für die Teilnahme an digitalen Projekte ist es außerdem wichtig, dass alle Jugendlichen Zugang zu einer stabilen Internetverbindung haben und zur nötigen technischen Ausrüstung bekommen können (beispielsweise in ihren Berufsschulen).